Sprach-Mathematik oder: die Negation der Negation?

'Auch wolkige Ideen wie die Gemeinwohlökonomie entwickeln keine Sogkraft, bevor sie nicht im Massentest bewährt sind', schreibt die SZ.
'Bevor Griechenland die Voraussetzungen [...] nicht erfüllt, brauchen wir über ein drittes Paket nicht zu reden', heißt es in der ZEIT.
'Deine Änderungen werden nicht gespeichert, bevor Du nicht "Änderungen speichern" anklickst', informiert Twitter.

Die temporale Konjunktion 'bevor' weist hin auf eine zeitliche oder inhaltliche Abhängigkeit eines Ereignisses oder Sachverhaltes von einem zweiten solchen. Ist die Abhängigkeit eine rein zeitliche, findet sich bei der Lektüre kein fragliches -nicht

• Sie erreichte das Kino, bevor der Film begann
• Er kam nach Hause, bevor seine Schwester da war
• Wir müssen es schaffen, bevor es dunkel wird

Deutet ein -bevor neben der (auch) zeitlichen auf eine inhaltliche Abhängigkeit, eine Bedingung hin, finden wir häufig - siehe oben - eine Verbindung mit -nicht. Kennen wir aber das Ende einer Geschichte nicht, bevor wir das Buch nicht vollständig gelesen, den Film nicht vollständig gesehen haben? Trinke ich keinen Kaffee, bevor ich den Artikel nicht oder bevor ich den Artikel beendet habe? Können wir uns kein Urteil bilden, bevor wir nicht beide Seiten gehört haben? Oder bevor wir beide Seiten gehört haben?

Deutlicher wird es sprachlich, wenn die Sätze umformuliert werden. Aus 'bevor plus nicht' machen wir einmal ein 'erst wenn':

• Sie kennen Thomas Mann nicht, bevor Sie nicht Buddenbrooks gelesen haben:
  Sie kennen Thomas Mann erst, wenn Sie Buddenbrooks nicht gelesen haben[?]
• Sie kennen Italien nicht, bevor Sie nicht Venedig besuchten:
  Sie kennen Italien erst, wenn Sie Venedig nicht besuchten[?]

Wie (auch) die Mathematik uns lehrt, hebt eine zweite Negation eine erste auf. So läsen sich Sätze wie folgt:

• Triff keine Entscheidung, bevor Du nicht mit ihr gesprochen hast:
  Triff eine Entscheidung, bevor Du mit ihr gesprochen hast
• Zähle nicht Deine Hühner, bevor sie nicht geschlüpft sind:
  Zähle Deine Hühner, bevor sie geschlüpft sind

Trotz der Tatsache, dass der recht munter deskriptivierende DUDEN das -nicht in der Kombination mit -bevor inzwischen anerkennt, in manchen Fällen gar horribile dictu empfiehlt, bin ich mit Daniel Goldstein (Bitte recht logisch 1) der Überzeugung, dass die Logik hier nicht der Sprachpflege/-unpflege geopfert werden darf. Die Konjunktion -bevor verlangt ein Ereignis, eine erfüllte Bedingung - nicht ein Nicht-Ereignis, nicht eine nicht erfüllte Voraussetzung. Ist ein Ereignis noch nicht eingetreten, ist die Zeit noch nicht da, tritt die Konjuktion -solange mit dem dann nicht fraglichen -nicht an.

• Solange sie nicht da ist, fangen wir nicht an
• Solange das Zelt nicht repariert ist, fahren wir nicht ab
• Solange dieser Satz nicht ausgeschrieben ist, ist der Artikel ...

Soll es die Konjunktion -bevor bleiben, entfällt das -nicht.

• Bevor sie da ist, fangen wir nicht an
• Bevor das Zelt repariert ist, fahren wir nicht ab
• Bevor dieser Satz ausgeschrieben ist ...