Sonntag, 5. Juni 2016

Eine Gesellschaft im (sprachlichen) Dauer-Krieg?

'Stürzen, Opportunismus, Versagen, gefährlich, Albtraum, großer Streit, Blödsinn, Abschreckung.'

Keine drei Minuten hat es gedauert, diese Vokabeln zusammenzutragen. Ich fand sie im Online-Auftritt des Freitag. Unabhängig davon, dass ich eine solche Sprache eher im Boulevard erwartete, einem Genre, dem sich Publikationen wie Spiegel Online und nun offensichtlich auch der Freitag annähern: Sind die Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, nicht groß genug, sind sie zu unbedeutend noch, als dass wir auf Polarisation, auf Pathos und die inzwischen weitverbreitete und wohlfeile Distinktion verzichteten, sie zumindest einschränkten?



In den Kommentar-Spalten der großen Online-Medien finden sich allenthalben grimmige Anwürfe, es finden sich Zurechtweisungen, Spott. Es finden sich allerhand Besserwissereien. Die Bereitschaft, sich selbst gerne für ein wenig klüger zu halten, ist ungebrochen. Oft wird dabei in befremdlicher Schlichtheit übersehen, dass Journalismus und Politik zwei tatsächlich sehr unterschiedliche Betätigungsfelder sind. Es wird die Perspektive des Fußball schauenden TV-Sehers eingenommen, der kess sich des Luxus der verschiedenen Kamera-Perspektiven bedient, um aus dem Off hilfreiche Spieltipps zu geben, Spieleraktionen entschlossen zu verspotten und dem erbarmungswürdigen Schiri frech zuzurufen, man wisse ohnehin, wo er wohne.

Die Narrative, die Reflexe

Der Mensch, er liebt die Geschichte, er - unbedingt natürlich auch sie - braucht das Narrativ. Die wahre Welt, sie findet in Innenräumen statt. Gefühl, es muss dabei sein, eine Prise Drama würzt das Geschehen. Die Verwaltung versagt! Ein Staatsstreich droht, ein Putsch - die Kanzlerin wird mindestens gestürzt! Jeder tummelt sich in seinem Bereich, pflegt seine Blase, bestätigt sich selbst hier wie dort und ist - nun wird es spannend - jederzeit bereit zu postulieren: Die anderen sind doof!

Wie heißt es dazu so schön im Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und verschwand:
"... und eines habe er dabei gelernt, nämlich dass die größten und unmöglichsten aller Konflikte immer auf derselben Grundlage beruhten: 'Du bist doof, nein, DU bist doof!'"
Dein Gott ist doof, Dein Glaube ohnehin, Deine Partei ist erbärmlich, Du isst Fleisch, bist viel zu links - womöglich zu rechts. Im Namen der Vernunft und im Auftrag des Herrn: Du hast keine Ahnung!

Ein zunehmend virulenter Reflex ist es, angesichts der derzeitigen Migrationsbewegung den politischen, den, ich möchte sagen, eher sozialen Gegner als minderwertig, sprich als dumm zu bezeichnen. Eine Reaktion, die einem kultivierten Menschen nicht zu Gebote steht. Selbst wenn dies stimmen sollte - was ist dumm? - stellt sich die Frage, was eine Abqualifizierung mehr ist denn eine preiswerte Distinktion. Man bestätigt sich selbst, der Klügere zu sein, ist in Wirklichkeit oftmals nur der Glücklichere, der angenehmere Umstände genießen durfte - schließt die Reihen und lässt befriedigt die Antipoden hilflos und degradiert zurück. Ha! Reproduziert somit die Umstände, die Teile dieser Gesellschaft unglücklich und zunehmend unmutig machen.

Da sind Menschen, die tatsächlich unerreichbar sind für einen kultivierten Dialog. Auch diese gilt es nicht mit Begriffen wie Mob, Pack, brauner Sumpf zu denunzieren, zur Schande zu entwürdigen. Offenbar haben wir es als Gesellschaft bisher nicht vollbracht, alle Mitglieder zufrieden genug zu stellen mit unserer schnellen, mit unserer anforderungsreichen, mit unserer konkurrenzorientiert-liberalen Lebensweise. Gewalt findet statt, dem einen oder anderen fällt zur Selbstwert-Promotion nur noch ein, dass er deutsch ist.

Distinktion

Wie steht es auf einer gediegeneren Ebene mit der Kommunikation? Was zeigt sich beispielsweise im als durchaus kultiviert geltenden Medium Twitter? Ein wenig zu häufig die oben beschriebene Taktik der Distinktion (https://de.wikipedia.org/wiki/Distinktion_(Soziologie), wie ich finde. Die Bereitschaft, sich dadurch abzugrenzen, dass andere vorgeführt, dass sie für dumm erklärt, dass sie auf diesem Wege entwürdigt werden. Der Paragraph 1 unseres Grundgesetzes, er gilt nicht immer und überall, er gilt nicht für jede, für jeden?

The Principle of Charity

Es war Margarete Stokowski, eine #SPON-Kolumnistin, ihre Kolumne vom 14. Januar 2016, die mich auf ein Prinzip aufmerksam machten. The Principle of Charity, das Prinzip der wohlwollenden Interpretation. So Sie es studieren möchten, Google gibt hier gerne Auskunft. Unter welchen Umständen ändert sich ein Mensch, so fragte ich mich. Sind es Denunziation und Herabwürdigung, sind es Ausgrenzungen und Beleidigungen, die einen Mitbürger nachdenken lassen, ob er hier und da zu heftig reagiert, zu laut schreit, gar pöbelt? Verstärken Ab- wie Ausgrenzung eine Verfasstheit, die oft nicht mehr denn Überforderung, denn Hilflosigkeit bestimmen?

In Angelegenheiten der eigenen Person - o Meschenkind! - zeigt jeder, zeigt jede sich gerne bereit, mildernde Umstände zu beanspruchen. Wir haben es nicht so gemeint, die Familie, das Geld ... und überhaupt: die Motive sind edel, sind tadellos. Ein vollständiger Ausgleich kann hier nicht erfolgen, wir sind im eigenen Namen unterwegs, bewerten eigene Widersprüche und Fehlbarkeiten notwendigerweise ein wenig milder denn die der Zeitgenossen. Doch könnte eine Würdigung der Umstände, der Motive des Gegenübers den Diskurs durchaus entspannen und befruchten.

Nun her mit den Anwürfen, den Zeihungen, her mit dem Pathos, dem Drama. Und der respektvollen Frage: Was bewegt die anderen, was können wir lernen?

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